Wenn es bergab geht, geht es auch wieder bergauf.
Alles beginnt im Sommer 2021 als einfache Idee. Doch die vielen Gedanken und Ideen formen sich schnell zu einem Plan, der urplötzlich umgesetzt wird. Job gekündigt und wenig später stehen wir – mein damals vierjähriger Sohn Tim und ich – bei strahlender Sonne am Strassenrand in Lugano. Beide Hände sind fest an der Lenkerstange, ich leicht nervös, die Taschen an meinem Fahrrad aber längst vollbepackt. Vor uns liegt eine Hauptstrasse, die uns am See entlang und später über den Berg nach Menaggio führt. Das erste grosse Ziel ist die italienische Stadt Pavia in der Lombardei. Wir lassen noch ein paar Autos passieren, blicken ein letztes Mal zurück und treten in die Pedale.
Zwei Wochen zuvor war ich einer spontanen Idee gefolgt, die ich schon sehr lange in meinem Kopf hatte: eine Weltreise. Der Start mit dem Fahrrad, der Rest ist offen, ein Endziel gibt es nicht. Fest steht nur, dass wir als Erstes unsere Freundin mit eigener Surfschule in Griechenland auf der Insel Limnos in der Ägäis besuchen wollen. Danach werden wir je nach Interesse entscheiden. Ich kaufte mir ein Occasionsvelo, schaute auf dem Rückweg gleich bei Veloplus vorbei und besorgte mir Hinterradtaschen. Tim bekam ein neues Kindervelo und wird mit dem Follow-me an meinem befestigt. Zum Start quetschten wir auf das bereits voll beladene Velo auch noch den Kindersitz. Es war mir unklar, wie wir auch nur einen Tag auf dem Velo meistern würden. Für eine Testfahrt musste die Strasse in unserem Dorf Anwil (BL) herhalten – für eine längere Tour mit Materialtest war jedoch keine Zeit.
Ein Abenteuer entsteht
Und so stehen wir nun am Strassenrand in Lugano und brechen auf. Als Wegweiser habe ich die Euro-Velo-Route 8 nach Griechenland gewählt und mich über Google-Maps orientiert. Ein improvisierter Start. Und improvisiert wird vieles werden – ein bisschen verrückt und über die eigenen Grenzen hinaus ebenfalls. Ein Abenteuer eben. Und kein Abenteuer ohne Malheur: So schiebe ich knapp vier Wochen später unser beladenes «Schneckenhaus» im Schneckentempo über die Grenze von Kroatien nach Montenegro, mit offenen Blasen an den Füssen.
Der Verzweiflungsmoment ist da. Die Tränen auch. Doch eine Fahrradweisheit sagt: Wenn es bergab geht, geht es auch wieder bergauf. Nach drei Tagen und 150 km mit gebrochenen Speichen, Schiebepassagen und Blasen an den Füssen ist keine Lösung in Sicht. Wir klopfen an einen Fahrradladen in Montenegro. Aber wir verstehen die Sprache des Mannes nicht – und mit Englisch werden wir nicht verstanden. Aus irgendeinem Grund wird mir allerdings ein Zettel mit einer Nummer mitgegeben. Wir versuchen anzurufen, jemand nimmt ab – und wir können am nächsten Tag um 10 Uhr vorbeikommen. Wir hoffen, dass die Speichen repariert werden können, aber wir haben keine Ahnung. Doch tags darauf findet der Verkäufer in seiner Hintergarage tatsächlich fünf Speichen in passender Grösse. Das Abenteuer kann am Nachmittag weitergehen.
Wir nehmen «Fahrtwind» auf
Jeweils früh um halb sechs, bei aller Stille, öffne ich den Reiss-verschluss unseres Zelts. Ich lasse die Luft aus den Matratzen, kremple Gaskocher und Kaffee hervor und bereite das Müesli zu. Tim schläft. Doch bald heisst es: aufwachen, essen, Zähne putzen und los. Am Anfang war ich gerade abhängig von kleinen Ritualen. Alles musste den gleichen Ablauf haben, vor allem am Morgen. Alles abbauen und zusammenpacken steht zuoberst auf der Liste, weil ich diese Ordnung und Struktur brauche, um einen klaren Kopf zu haben. Mittagessen gibts daher zwischen 12 und 13 Uhr, die letzten Kilometer werden zwischen 15 und 17 Uhr gefahren, bevor wir uns einen neuen Schlafplatz unter freiem Sternenhimmel suchen. Mal schleppen wir das Gepäck tiefer ins Gebüsch, manchmal fragen wir bei Hausbesitzern mit Garten. Wild campen ist grundsätzlich aber weniger kompliziert als gedacht. Und auch wenn von aussen betrachtet nur schwer vorstellbar: Ist man mittendrin und selbst vor Ort, lässt sich eigentlich immer ein Plätzchen finden.
Mittlerweile sind wir in Albanien, essen in einem Restaurant Spaghetti für umgerechnet zwei Franken und lieben das Gefühl, in der Ferne zu sein. Eine unglaubliche Strecke durch fünf faszinierende Länder liegt für uns als Team bereits hinter uns, gleichzeitig kommt das Ziel Athen immer näher. Wir schauen auf die Karte und berechnen, wie viele Tage wir bis Athen noch pedalieren werden und vereinbaren, dass meine Mama sich Ferien nimmt und uns in der griechischen Hauptstadt besuchen kommt. Eine Extraportion Motivation für Tim und mich.
Und dann fahren wir Anfang Oktober tatsächlich in Athen ein. Wir haben es geschafft! Die folgenden Tage entspannen wir, tauschen unser Nomaden-Dasein gegen eine Airbnb-Wohnung im dritten Stock und geniessen auf dem Balkon mit meiner Mama das tägliche Frühstück. Zurücklehnen und entspannen – das Gedankenkarussell beginnt sich zu drehen. Ja, wir haben unser Ziel erreicht, aber es ist nicht das Ende. Es ist eigentlich der Anfang von allem. Der Anfang, der alles verändert. Denn wir haben entschieden, dass wir weiterfahren wollen. Weiter in die Welt hinaus, mit Fahrrad und Zelt, denn anders können wir es uns inzwischen gar nicht mehr vorstellen.
Fast Grenzenlos
Nach unserem zweiwöchigen Besuch auf Limnos bei meiner Freundin und Tims ersten Surflektionen radeln wir auf dem Festland weiter Richtung Türkei. Wir peilen die Südküste mit dem Ziel Antalya an. Bis im Dezember wollen wir da sein. Die Türkei ist super, ein Land mit Kultur und Tradition. Noch am Grenzübergang werden wir zu Chai und Simit (Sesamkringel) eingeladen. Jetzt wird mir bewusst: Wir verlassen den sicheren Hafen «Europa» und müssen lernen, mit Velo und Zelt zu überwintern. Die Kälte wird dann auch zur Grenzerfahrung, auch weil unser Hab und Gut mehr nass als trocken ist. Die Zeit an der Küste könnte aber nicht besser sein. Täglich grüsst ein eindrückliches Farbspiel: ein Blau im Meer und ein sattes Grün in der Natur. Die Strasse schlängelt durch kleine Dörfer, wo die Frauen weite, blumige Stoffhosen tragen und sich Männer in den Cafés mit Kartenspielen unterhalten. Unten am Meer geniessen wir die weiten Sandstrände jeweils für uns allein. Es ist gerade Nebensaison, und wir werden gefühlt täglich auf zwölf Chais eingeladen.
Während unser Alltag mehr oder weniger der gleiche ist, werden wir langsamer und langsamer. Wir befinden uns an der Südküste etwas nach Bodrum herum. Mein Körper kommt an seine Grenzen und mein Kopf kann langsam keine Hügel mehr sehen. All das, was uns die letzten vier Monate so Spass gemacht hat, wird plötzlich nur noch anstrengend. Und so sitzen wir etwa 250 km vor Antalya in Köycegiz auf einer Bank und machen unser Frühstück. Die Morgenluft ist kühl, die Sonnenstrahlen wärmen jedoch das Gesicht. Plötzlich hält ein Velofahrer an und sagt «Hallo». Wir kommen ins Gespräch. Der nette Mann heisst Henry, kommt ursprünglich aus Amerika, wohnt nun aber schon lange hier. Er bietet uns eine Dusche in seinem Haus an – inklusive Kaffee. Erst lehne ich ab. Nicht weil ich ihm nicht traue, sondern weil wir eigentlich gleich weiterfahren wollen.
Doch wir nehmen das Angebot an. In seinem Haus führen wir interessante Gespräche. Zwei, drei Tassen Kaffee später – es ist inzwischen Nachmittag – beschliessen wir, hier zu übernachten. Kurz vor unserer Abfahrt tags darauf unterbreitet Henry uns ein weiteres Angebot: «Ich bin im Januar und Februar in Italien, ihr könnt in dieser Zeit mein Haus hüten, wenn ihr wollt.» Was für ein Angebot. Wir einigen uns, dass ich mich melde, wenn wir in Antalya sind. Antalya erreichen wir kurz vor Tims Geburtstag im Dezember – gerade noch kurz vor Wintereinbruch. Üblicherweise soll es hier auch im Winter um die 10 Grad warm sein, doch kaum sind wir dort, fallen die Temperaturen auf den Gefrierpunkt und die Landschaft wird mit einer weissen Decke bedeckt.
Wir entscheiden, uns bei Henry zu melden – und tauschen um Weihnachten unser Zelt gegen sein Haus. Tim kann während dieser Zeit sogar den Kindergarten besuchen. Ja, wir finden schnell Anschluss und fühlen uns richtig wohl. Und Rituale wie der wöchentliche Wochenmarkt machen uns richtig Freude. Die Einschränkungen und Reisebestimmungen aufgrund der Pandemie zwingen uns so oder so zu einer Pause. Auch wenn wir gerne grenzenlos weiterfahren würden, wissen wir, dass die Zwangspause gerade das Richtige ist.
Der Weg wird zum Ziel
Wochen später wird es wärmer und die Reiselust täglich grösser. Die ganze Welt steht offen – denke ich zumindest. Aber das Leben ändert sich manchmal zu schnell. Also suchen wir aktiv nach einer Antwort, was wir als nächstes machen wollen. Eines ist klar: Wir wollen weiterfahren und möglichst in die Wärme.
Oft habe ich von Afrika geredet, ein noch grösserer Traum in meinem Kopf. Aktuell sind wir für Afrika jedoch nicht ausgerüstet, ein bisschen Afrika sollte aber dennoch drinliegen. Auch wenn wir unseren CO2-Fussabdruck nicht unsinnig mit Fliegerei verspielen wollen, buchen wir uns einen Flug nach Hurghada in Ägypten. Durch einen Kontakt in der Schweiz werden wir sogar am Flughaben abgeholt und haben ein paar Tage Zeit, um anzukommen und unsere Räder wieder zusammenzubauen. Der Plan steht ebenfalls: Wir wollen nach Luxor ins Landesinnere und von dort dem Nil entlang bis nach Kairo fahren – zu den Pyramiden.
Hätte, hätte Fahrradkette. Hätte ich vielleicht doch zu dieser Zeit mehr innere Ruhe gehabt, mehr Geduld, wäre alles etwas ruhiger gekommen und ohne so viel «Tamtam». Doch ich hatte sie leider nicht. Denn Ägypten ist zu einem abenteuerlichen Abenteuer geworden – und wir schnell in der Realität gelandet.
In Ägypten ist für einmal der Weg das Ziel, nicht das Ziel selbst. Am Anfang können wir noch träumen. Wir fahren mit unserm Fahrrad südlich entlang der Küste und raus aus Hurghada. Es läuft gut, auch wenn wir mitten in einer Wüstenlandschaft fahren. Wegen des starken und im März noch kühlen Windes tragen wir unsere Windjacken. Am Strassenrand sind oft Schilder mit «Kein Handyempfang» zu sehen. Wir fragen daher bei einer Tauchstation nach, ob wir unser Zelt am Strand aufstellen können. So schlafen wir sogar problemlos direkt am Strand.
Die Seifenblase platzt jedoch schnell. Am nächsten Ort am Nil, noch vor Luxor, bremst uns die Polizei. Nach einem kurzen Grüssen werden wir gebeten anzuhalten und müssen warten. Warten und nochmals warten. Aus fünf Minuten wird bald eine Stunde. Bis dann auch jemand kommt, der englisch spricht, vergeht nochmals viel Zeit. Polizei, Kontrolle, Regeln – aber ausgerechnet die Polizei selbst unterhielt uns während des Wartens mit Spass und Selfies und zeigt uns sogar, wie Zuckerrohr gegessen wird.
Allein weiterfahren dürfen wir dann aber nicht. So werden wir fortan von einer Polizeieskorte begleitet. Wir fahren also gemächlich voraus, das Polizeiauto hinterher. Ich verspüre Druck aufgrund der Eskorte, versuche jedoch, mich nicht davon zu beirren lassen. Denn was wir gerade erleben, ist sehr besonders. Die Landschaft versetzt uns ins Staunen und das laute, bunte Treiben auf den Strassen in den Ortschaften lieben wir. Vor allem gibt es an jeder Ecke Falafel und Bohnen, die noch aus einem Tontopf serviert werden.
Hie und da heisst es «Welcome in Egypt». Die Menschen lächeln uns zu. In Luxor angekommen, verschnaufen wir erst mal ein paar Tage in einem Hostel, um die Stadt und die Landschaft zu erkunden. Das dürfen wir sogar ohne Eskorte und mit Fahrrad tun. Als wir nach ein paar Tagen weiterziehen und entlang des Nils bis Kairo fahren, ist die Polizeieskorte aber wieder präsent. Das letzte Stück fahren wir mit dem Zug, bevor wir die letzten Kilometer zu den Pyramiden radeln. Auch wenn Kairo keineswegs fahrradtauglich ist: Wir haben es geschafft – und fühlen für einen Moment Glück und Faszination, als wir die Spitze der Pyramiden zwischen den vielen Hochhäusern sehen. Danach brauchen wir Urlaub vom Urlaub. Ein Nachtbus fährt uns von Kairo nach Dahab. Wir mischen uns in einem Hostel unter die jungen Backpacker, sitzen nachts am Lagerfeuer am Strand, erzählen unseren neuen Bekanntschaften unsere Geschichten. Aus den geplanten ein bis zwei Nächten werden innert kürzester Zeit mehr als zwei Wochen.
Keineswegs spurlos
Der Gedanke, mal wieder im Haus meiner Mutter im Garten zu sitzen, Freunde zu sehen, eine richtige Dusche zu geniessen oder einen Kaffee aus meiner Lieblingstasse zu schlürfen, verschafft sich immer mehr zu einem Bedürfnis. Er überschattet für einen Moment all die Träume der grossen weiten Welt. Daher beschliessen wir, zurück in die Türkei zu reisen und von dort aus zurück in die Schweiz zu radeln. Die vorhandenen Träume geben wir auf keinen Fall auf. Es soll ein Heimatbesuch werden, danach geht es weiter. Denn mittlerweile ist es mehr als einfach nur eine Reise. Es ist unser Leben.
Nach Ägypten sind wir richtig erleichtert, einfach frei und selbstständig zu radeln und unser Zelt irgendwo aufzustellen. Die Rückfahrt wird so richtig zum Genuss. Es gibt wieder Fahrradwege, unter anderem nach Griechenland den Eurovelo-Weg, der uns durch Italien zurück in die Schweiz führt. Für einmal ist unsere Geschwindigkeit perfekt. Wir haben Zeit für all die Sinneswahrnehmungen. Während wir unser Leben so richtig geniessen, passen wir uns kulturell automatisch wieder an und sprechen im Südtirol nach einem Jahr erstmals wieder Deutsch. Genau, ein Jahr haben wir im Gepäck. Ein Jahr hin und zurück mit dem Fahrrad. Das ist alles aus einer spontanen Idee entstanden. Und es geht noch weiter…
Zweiter Versuch
Es ist nicht immer einfach, dem Timing des eigenen Lebens zu vertrauen und all die Bedürfnisse und Pflichten unter einen Hut zu bringen – und das für zwei. Doch wir bleiben dran. Der Erfahrungsschatz von einem Jahr on the Road prägt uns und hat grossen Einfluss. Ich bereite mich für den Restart besser vor, kann die Lage besser einschätzen, auch wenn es erneut taff werden wird. Dafür kaufe ich mir ein neues Occasionsfahrrad, dieses Mal jedoch ein Gravel. Unsere Taschen werden leichter, das Gepäck weniger, und in Sachen Navigation setzen wir nicht mehr auf Google, sondern auf Komoot.
Unser Ziel: Ab Antalya die ursprüngliche Reise fortzusetzen. Also in jener Stadt, in der wir vor unserer Rückkehr einst gestrandet sind. Via Iran und Dubai ist dann der Oman das Ziel. Ich weiss, es ist möglich, auch wenn mir bewusst ist, dass es nicht einfach sein wird. Mittlerweile ist es Herbst 2022, und wir feiern meinen 30. Geburtstag direkt am Meer an der Südküste in der Türkei. Die Erfahrungen aus der Vergangenheit zahlen sich aus, wir geniessen die Zeit – es ist einfach wunderschön.
Zugegeben: Der Start ist etwas holperig. Die Kette und die Schaltung funktionieren bei meinem Fahrrad nicht so richtig. Dazu steckt die Reise aus dem Jahr zuvor doch noch in unseren Knochen. Und die Hitze haben wir etwas unterschätzt. Wir tragen zwar lange, leichte Stoffkleider, aber Tim hat vermehrt mit Magenverstimmung zu kämpfen. Glücklicherweise finden wir denn Rank, bevor es uns immer weiter südöstlich nahe der syrischen Grenze treibt. Wir biegen dann nicht Richtung Norden für den Grenzübergang Türkei-Iran ab, sondern bleiben südlich und überqueren die Grenze Türkei-Nordirak. Nie in meinem Leben hätte ich mir vorstellen können, eines Tages mal hier zu sein. Auch wenn es einiges zu beachten gilt, ist es sehr sicher hier. Wir tauchen in eine neue Welt ein, wobei der «Tauchgang» ein echter Höhepunkt werden sollte. Denn die Gastfreundschaft sprengt jegliches Vorstellungsvermögen. Ich bräuchte mehr Zeit, um davon erzählen zu können. Denn wir erleben, sehen, hören und spüren so viel. Uns wird so viel gegeben, dass es uns zutiefst berührt. Auf keiner Reise zuvor haben wir je so eine Gastfreundschaft erfahren.
Jedoch kommt es ja meistens anders als geplant. So haben wir entschieden, nicht durch den Iran und Saudi-Arabien zu reisen. Denn allein mit meinem Sohn durch die fast unendlich scheinende Wüste zu fahren, wäre wohl definitiv kein gesunder Entscheid gewesen. Das Ziel Oman bleibt, weshalb wir für einmal in den Flieger sitzen und vom Norden des Iraks nach Dubai fliegen. Denn aufgeben wollen wir nicht. Und so radeln wir von Dubai in den Oman. Ich habe schon viel gehört, dass es in diesem Land auf der arabischen Halbinsel mega sein muss. Doch wir müssen selbst dort sein, um zu verstehen, was den Oman so besonders macht. Eines vorab: Es ist wirklich unglaublich. Einfach ein sehr besonderer Ort auf dieser Welt.
Ein Ort, der uns so viel Kraft gibt, dass wir das Undenkbare schaffen. Zusammen mit zwei andern Fahrradreisenden erklimmen wir mit dem Fahrrad den Jebel Shams, der mit über 3000 Metern über Meer höchste Gebirgsstock im Oman. Der Weg dorthin zählt ebenfalls zu den härtesten, die ich je gefahren bin. Aber es beweist uns, wie krass wir die letzten eineinhalb Jahre auf dem Fahrrad selbst gewachsen sind. Es bewegt uns so sehr, dass wir richtig Abschiedsschmerz verspüren, als wir dann nach einem weiteren Monat im Oman den Rückflug in die Schweiz nehmen, um wie geplant zurückzukehren. Es ist schön, in der Heimat wieder in die Arme geschlossen zu werden, auch wenn inzwischen die Welt unser neues Zuhause ist.
Wie geht das mit Kind?
Ja, man kann einen grossen Einfluss auf sein Leben nehmen und eineinhalb Jahre können das eigene Leben komplett verändern. Doch hie und da hat das Leben ein paar Umwege bereit. So verlängern wir unseren Heimatbesuch im Wissen, bereits das nächste Abenteuer geplant zu haben. Aber vorerst nutzen wir die Zeit zur Verarbeitung und Verwirklichung von andern Projekten. Wie zum Beispiel das Erlebte zu Papier zu bringen. Tim geht in den Kindergarten und ich gehe ein paar Jobs nach. Alles ganz normal. Alles ganz ruhig.
Die zwei Fakten, dass ich als Frau und mit meinem Sohn allein in östlich ferne Länder reise, stösst immer auf grosses Interesse. Für uns ist es Alltag geworden, weil wir es einfach probiert haben. Schwer vorstellbar mag es für die einen sein, aber wer selbst mittendrin ist, merkt, dass es keine Hexerei ist.
Natürlich, es ist alles andere als einfach. Es scheint einfach zu sein, wie wir uns von Tag zu Tag bewegen, wie wir die Momente erleben und wie wir uns entscheiden. Die Entscheidungen sind oftmals Bauchgefühle. Denn auf diesen Reisen sind die Konsequenzen der Entscheidungen nicht immer absehbar. Deshalb sollte das eigene Vertrauen in das Bauchgefühl immer vorhanden sein – auch wenn es nicht immer einfach erscheint.
Die Beziehung und gleichzeitig die Erziehung zu meinem Sohn birgt sowieso schon viele Herausforderung mit sich – mit Konsequenzen, die schnell zu spüren sind. Es kann manchmal auch so nervenaufreibend sein, dass es einem echt unter die Haut geht. Daher ist das Dasein als Mami fast die grösste Herausforderung. Trotzdem würde ich niemals tauschen wollen. Denn Tim und ich sind zu einem unglaublichen Team zusammengewachsen. Wir haben wirklich Zeit füreinander, fürs Zusammensein und Zusammenwachsen. Und das Schönste: Es ist so richtig echt! Menschlich und mit viel Herz. Ein grosses Dankeschön an meinen Sohn.
Zum Schluss noch...
Jemand stellte mir einmal eine gut formulierte Frage: «Was hätten wir denn nicht gelernt, wenn wir nicht gegangen wären?» Die Frage war so formuliert, dass ich alles aus einem anderen Blickwinkel betrachten musste. Ja, was hätten wir denn alles nicht gelernt? Ich weiss es nicht genau, denn ich kann nicht wissen, wie alles gewesen wäre, wären wir nie gegangen. Ich weiss nur: Allein als Frau mit meinem Sohn und unseren Velos spontan Richtung Osten in fremde Länder loszuziehen, ist vielleicht ein bisschen verrückt, für uns jedoch die beste Zeit unseres Lebens!