Gebucht ist lediglich ein Ticket nach Toronto, Kanada. Wir wollen nach Vancouver fahren. Dass wir aber bis Los Angeles radeln, Kolumbien bereisen und auch in Neuseeland mit dem Velo unterwegs sind, wissen wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Es ist unser erster Tag auf dem Velo, etwas ausserhalb von Toronto machen wir Mittagspause. Und nun stoppt diese Frau ihren Pickup neben uns und fragt, wohin unsere Reise geht. «Nach Vancouver», sagen wir – und glauben uns das selber noch nicht so richtig. Die Frau starrt uns mit grossen Augen an: «Seriously?! Wisst ihr, wie weit das ist?! Das ist ein Sechs- Stunden-Flug. Good luck!» Recht hat sie: Vor uns liegt ein ganzer Kontinent, 5000 Kilometer.
Es ist Ende Mai 2022 und wir wissen zu diesem Zeitpunkt noch nicht, wo es uns überall hin verschlagen wird. Unser Plan: Wir haben sechs Monate Zeit und wollen mindestens von Toronto nach Vancouver fahren. Eine genaue Route haben wir nicht geplant. 2019 haben wir unsere erste Velotour gemacht, von Genf nach Marseille. Geschlafen haben wir da jeweils in Unterkünften, auch hatten wir keine Kochutensilien dabei. 2021 fuhren wir dann von Luzern nach Vevey, mit Zelt, Schlafsack und Kocher. Das wars, was wir an Bikepacking-Erfahrung im Gepäck hatten.
Wir kochen Teigwaren mit Tomatensauce und Bohnen – wir nennen das Gericht einige Wochen später liebevoll Pasta Bicicletta und essen es fast jeden Abend.
Erste Fahrversuche voll bepackt
Wir wollen unser Abenteuer sachte angehen. Für die ersten fünf Nächte haben wir deshalb eine Unterkunft gebucht. Wir möchten Toronto und die Niagarafälle anschauen, müssen die Velos zusammenschrauben. Am Tag der Abfahrt sitzen wir beide zum ersten Mal auf den vollbeladenen Rädern. Hinter unserer Unterkunft, beim Lieferanteneingang zwischen Abfallcontainern, drehen wir unsere ersten Runden. Der Weg aus der Stadt ist mühselig. Zwar hat es immer wieder markierte Radwege, aber eben auch sehr viel Verkehr. Wir schaffen es schliesslich zu unserem ersten Campingplatz. Wir richten uns ein; ausser einem Feuerzeug haben wir wohl alles dabei. Zum Glück verkauft ein Shop in der Nähe Feuerzeuge, so gibts ein warmes Abendessen. Wir kochen Teigwaren mit Tomatensauce und Bohnen – wir nennen das Gericht einige Wochen später liebevoll Pasta Bicicletta und essen es fast ausnahmslos jeden Abend.
Kalt, nass und stürmisch
Entlang der grossen Seen fahren wir durch Nadelwälder und Siedlungen von Amish People, kämpfen erfolglos gegen Moskitos, trotzen Gegenwind und Regen. Eigentlich wollen wir vor allem im Zelt übernachten. Aber es regnet teilweise so stark, dass wir abends klitschnass ein von der Nacht zuvor noch nasses Zelt hätten aufbauen müssen und am nächsten Tag wieder im Regen hätten weiterfahren müssen. An solchen Tagen gönnen wir uns eine Unterkunft. Meistens ist das ein eher ranziges Motel, aber immerhin warm und trocken. Ein starkes Gewitter trifft uns tagsüber. Wir übernachten in Nipigon, Ontario, und warten bis kurz vor dem Mittag in einem der zahlreichen Tim Hortons Fastfood-Restaurants den vermeintlich stärksten Regen ab. Kaum auf dem Velo und etwas ausserhalb des Ortes, gehts aber erst richtig los. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als weiterzufahren, denn wir finden keinen Unterschlupf. Schliesslich sehen wir ein Privathaus, wir klingeln. Der Besitzer schaut uns etwas fragend an, lässt uns aber unter seinem Vordach warten. Später bringt er uns dann noch etwas zu trinken und bittet uns hinein.
Als der Sturm etwas nachlässt, fahren wir weiter. Nur, um nach wenigen Kilometern erneut einen Unterschlupf zu suchen, weil es wieder heftig gewittert. Glücklicherweise finden wir direkt am Strassenrand einen kleinen Laden. Wir müssen wirklich miserabel ausgesehen haben, denn die Besitzerin spendiert uns einen Kaffee, eine Kundin will uns den Einkauf bezahlen und eine andere hätte uns auf ihrem Pickup mitgenommen, wäre sie nur in dieselbe Richtung gefahren. Ein so starkes Gewitter hätten sie die letzten fünf Jahre nicht gehabt, erzählen sie uns.
Stundenlang sehen wir keine anderen Menschen, keine Häuser, nichts. Nur Ackerland, manchmal Kuhherden, die uns anstarren, als hätten sie noch nie Veloreisende gesehen – was vielleicht sogar stimmt.
Hitze und Wind in der Prärie
Die Nächte an den grossen Seen bleiben kalt. Am Abend hält uns oft ein Feuer warm. In Thunder Bay rüsten wir unsere Velos auf: Pedalen mit Körbchen. In Upsala, Ontario, sehen wir zum ersten Mal einen Schwarzbär. Später auch Elche und einen Wolf. Schliesslich erreichen wir unser erstes Zwischenziel Winnipeg. Wir geniessen einige Tage Pause, schlendern durch die Stadt, essen keine Pasta, feiern am 1. Juli den Canada Day mit den Freunden unseres Airbnb-Hosts. Es gibt «Argentinian BBQ», was unser Host «amazing» findet, zwei seiner Gäste, beide aus Argentinien, mit «this is too small, this is not BBQ, this is shit», kommentieren.
Ab Winnipeg beginnt die Prärie. Die ersten beiden Tage schiebt uns der Rückenwind beinahe westwärts. Dann, am dritten Tag und für die nächsten zwei Wochen, bläst er uns erbarmungslos ins Gesicht. Dazu kommt die Hitze. Die ersten Tage folgen wir dem Highway 1, der Kanada durchquert. Dann aber fahren wir 100 Kilometer nach Norden und ab da auf kleinen, ruhigen Strassen gen Westen. Stundenlang sehen wir keine anderen Menschen, keine Häuser, nichts. Nur Ackerland, manchmal Kuhherden, die uns anstarren, als hätten sie noch nie Veloreisende gesehen – was vielleicht sogar stimmt. Die schier unendliche Weite und Tiefe des Himmels ist unglaublich eindrücklich. Am Morgen ist der Wind meistens schwach und die Temperatur erträglich.
Einige Male stehen wir deshalb schon um 4 Uhr nachts auf und fahren zum Sonnenaufgang los. Gegen Mittag machen wir dann Feierabend. Schliesslich kommen wir in Calgary an – und seit einer gefühlten Ewigkeit sehen wir Berge! In der Ferne ziehen sich die Rocky Mountains entlang des Horizonts. Da wollen wir hin. Zuerst aber geniessen wir einige Tage in Calgary.
Schnee, Gletscher und tiefblaue Seen
Wir entscheiden uns, ab Calgary nicht den direkten Weg nach Vancouver zu nehmen. Von Banff fahren wir auf dem Icefields Parkway nördlich nach Jasper. Wir fahren mitten in den Rocky Mountains, vorbei am Columbia Icefield, über Pässe, waschen uns in milchigen Gletscherbächen, sind tagelang ohne Netzempfang, was aber nur in einer allfälligen Notsituation ein Problem gewesen wäre. Manchmal sehnen wir uns nach der Hitze der Prärie. Aber wir geniessen die Berge und wandern nachmittags häufig kurze Loops zu Aussichtspunkten.
Ein weiteres Mal wählen wir einen Umweg: Über Whistler nach Vancouver. Wir sind jetzt etwa zwei Monate unterwegs und dem Ziel schon so nah. Bereits zuvor haben wir einige wenige Male bei Warmshower-Hosts übernachtet. Ab jetzt regelmässiger, weil wir wieder in stärker besiedelten Gebieten unterwegs sind. So lernen wir beispielsweise Jean kennen. Sie ist 88 Jahre alt und erzählt uns, dass sie bereits in jungen Jahren mit Joggen begonnen hat. Insbesondere für Frauen sei das nicht üblich gewesen und es sei ihr mehrmals passiert, dass Autofahrer anhielten und fragten, weshalb sie renne, ob denn alles in Ordnung sei. Noch heute nimmt sie regelmässig an Wettkämpfen teil. Zum Frühstück brät sie uns die wahrscheinlich leckersten Pancakes.
Oder wir übernachten bei Rob. Er gratuliert uns zu unserer Leistung. Was sagt man dazu? Danke? Wir drucksen etwas rum, noch sind wir ja nicht in Vancouver. Rob: «Wenn man etwas jeden Tag tut, dann vergisst man, was man bereits erreicht hat.» Und er hat recht. Wir sind schon so weit, kommen viel schneller voran als gedacht und haben eine fantastische Zeit. Diesen Satz rufen wir uns noch einige Male ins Gedächtnis.
Immer dem Pazifik entlang
In Vancouver angekommen verbringen wir wieder einige Tage mit Sightseeing. Wir sind des Radfahrens noch nicht überdrüssig, haben unsere Reisezeit um zwei Monate verlängert und beschliessen, der Pazifikküste südwärts zu folgen. Zuerst machen wir aber noch einen Abstecher auf Vancouver Island, fahren einmal quer bis nach Ucluelet und südlich nach Victoria. Von dort gehts mit dem Schiff in die Staaten. Bis Astoria fahren wir im Landesinnern, ab dann an der Küste.
Oft fahren wir direkt dem Pazifik entlang, wir hören das Rauschen der Wellen und das Bellen der Seehunde. An manchen Tagen erscheint uns die Szenerie beinahe kitschig. In Depoe Bay machen wir einen Tag Pause – hier soll man Wale von der Küste aus sehen können. Mit haufenweise Snacks zur Überbrückung der Wartezeit machen wir es uns auf einer Bank bequem und starren auf den Ozean hinaus. Und tatsächlich, schon nach kurzer Zeit sehen wir die Atemwolken und Schwanzflossen der Tiere. Mehrere Stunden schauen wir dem faszinierenden Treiben zu.
Vor San Francisco machen wir einen Abstecher zur Avenue of the Giants. Diese Strasse führt uns während zwei Tagen durch die riesigen Redwoods. Wir übernachten mitten im Wald, unter den teilweise über 100 Meter hohen, uralten Bäumen. Wenige Tage später erreichen wir San Francisco. Wir geniessen einige Tage in der Stadt. Unser Ohrwurm «It never rains in California» bewahrheitet sich, die Palmen wachsen immer höher, es fährt sich beinahe wie von selbst. Nach fast vier Monaten im Sattel erreichen wir schliesslich die Stadt der Engel.
Velopause in Kolumbien
Es ist uns nach einer längerer Velopause zumute. Wir bleiben einige Tage in Los Angeles, fliegen dann nach Las Vegas, von dort geht’s zum Grand Canyon. Und dann: ab nach Kolumbien. Wir organisieren uns zwei grosse Rucksäcke, stellen unsere Velos mit dem meisten Gepäck bei unseren Warmshower-Hosts ein und fliegen nach Cartagena. Dort gönnen wir uns zunächst einige Tage Verschnaufpause am Strand in Baru, bessern dann während einer Woche unser Spanisch in einer Schule auf, lassen uns gegen Gelbfieber impfen. Schliesslich geht die Reise los: Wir geniessen einige Tage in Medellin, trekken ab Salento in drei Tagen zum Paramillo del Quindio, reisen nach Bogota, Abstecher nach Villa de Leyva, entspannen in Minca, stapfen durch den Tayronapark, fahren nach Palomino, nach Santa Marta und zurück nach Cartagena. Zu Beginn geniessen wir das Reisen mit dem Rucksack, was wir in den vergangenen Jahren schon so oft getan haben. Doch gegen Ende der sechs Wochen freuen wir uns, bald wieder auf das Velo zu steigen.
Ans andere Ende der Welt
Zurück in Los Angeles verpacken wir unsere Velos und fliegen zwei Tage später nach Auckland, Neuseeland. Wir bleiben nur kurz an Land, denn eine Woche später beginnt unser Segeltörn im Hauraki-Golf. Dank Tabletten gegen Seekrankheit landet nur das erste Frühstück über Bord. Fast täglich erkunden wir eine Insel, eindrücklich waren die Vulkaninsel Rangitoto und Quarantäneinsel Motuihe. Wir erleben einen Sturm, sehen Delfine und versuchen uns erfolglos als Fischer.
Anfang Dezember geht unsere Velotour weiter. Einziger Fixpunkt ist die Fähre auf die Südinsel. Die Nordinsel verlangt uns aber zuvor einiges ab. Die Strassen sind eng und kurvig, der Verkehr dicht. Es regnet viel, oft tagelang. Zweimal steigen wir deshalb in einen Zug, einmal fahren wir eine Strecke mit Freunden mit, die mit einem Camper unterwegs sind. Weihnachten verbringen wir in Wellington bei 15 Grad, in der Schweiz ist es ähnlich warm – von wegen Sommer in der südlichen Hemisphäre.
Unterwegs im Nichts
Das Wetter bessert sich, sobald wir auf der Südinsel ankommen. Endlich wieder Sonne! Wir fahren nach Westport und dann der Westküste entlang. In Franz Josef wandern wir zu einem Aussichtspunkt und können endlich unsere Wanderschuhe wieder brauchen, die wir in Kolumbien für den Trek gekauft haben und seit Wochen mitschleppen. Die Strassen sind auch auf der Südinsel schmal und kurvig. Hinzu kommen starke Anstiege, zum Beispiel das Überqueren des Haast Pass. Es fühlt sich teilweise nicht so an, als hätten wir schon monatelanges Training, es bleibt «en Chrampf». Aber die Aussicht ist wunderschön: Meer, Strand, Dschungel, Berge und Gletscher – alles auf einen Blick.
In Queenstown angekommen, machen wir erstmal einige Tage Pause. Als Abschluss unserer Reise entscheiden wir uns dann für den dreitägigen «Trail around the Mountains». Vor allem der erste Tag ist wunderschön; die Kiesstrassen führen durch einsame Landschaften, vorbei an Schafherden und tiefblauen Seen. Wir sind nochmals richtig weg von allem und geniessen die letzten Kilometer auf dem Velo.
Zurück in Queenstown lassen wir uns noch für einige Tage die Sonne auf den Bauch scheinen, bevor es mit dem Bus nach Christchurch geht. Fahrerin Debbie begrüsst ihre Passanten mit «it’s a great day for a roadtrip» und sieht sich eher als Reiseführerin, denn als Busfahrerin. Es wird eine sehr unterhaltsame Busfahrt. In Christchurch bleiben uns fünf Tage bis zum Heimflug. Wir machen einen Ausflug ans Meer, schlendern durch die Stadt, besuchen den botanischen Garten und das Erdbebenmuseum. Und dann, 30 Flugstunden später, landen wir in der eiskalten Schweiz. Müde, mit knapp 10’000 Velokilometern und unglaublich vielen Erinnerungen im Gepäck.
Die Ausrüstung
Tamara und Raphael waren bei ihrer Reise mit diversen Veloplus-Produkten unterwegs. Hier eine Übersicht derjenigen Artikel aus dem Veloplus-Sortiment, die zu Lieblingen der beiden wurden: